Sonderbericht!!!! Sigrids wunderbarer Bericht von ihrem Sieger-Lauf bei der 24-Stunden-WM in Belfast am 02.07.2017

24 h von Belfast –Bock auf Rock around the clock

 

Vor dem Lauf ist nach dem Lauf! Daher beginnt die Geschichte von Belfast für mich in Albi, als ich letztes Jahr meinen 24er mit einem fetten Shinsplint nach zwei Dritteln des EM-Laufs abbrechen musste.

Nicht nur mit der Verletzung hatte ich danach lange zu kämpfen. Vor allem psychisch hatte ich einen Durchhänger, denn mit der Freude am Laufen war auch der Glaube an meine läuferischen Fähigkeiten verlorengegangen. Aber er lockt denn doch wieder, so ein bunter Einsatz im Nationalteam, das große Event, schließlich hatte ich ja auch eine Scharte auszuwetzen.

So fiel meine Entscheidung, mich erneut auf einen 24-Stundenlauf vorzubereiten, schon Ende letzten Jahres. Ab Januar hatte ich ihn im Kopf und als Bewährungsprobe die 6 Stunden von Münster ausgesucht. Ab April lief ich nach Trainingsplan.

 

Aus dem Winter kam ich frustrierenderweise mit immer wieder heftig stechenden Patellasehnen. Und das nach der Regeneration! Da war ja wohl gar nichts regeneriert. Wie sollte ich damit ein Training für einen 24-Stunden-Lauf aufnehmen, wenn ich im Alltag nur mit Schmerzen überhaupt gehen konnte?

Es wurde schnell klar, dass ich erst einmal medizinische Hilfe brauchte, vorher machte es gar keinen Sinn, Umfänge aufzubauen.

Gerald Mexner, der unser 24-Stunden-Team schon in Turin betreut hatte, stand mir auch diesmal wieder mit viel Zeit, immer wieder aufmunternden Worten, viel Kompetenz und Enthusiasmus zur Seite. Neben seinen Beratungen und Behandlungen gab mir auch eine Röntgen- und MRT-Abklärung in der Sportklinik Hellersen die Sicherheit, dass ich nicht entgegen meinen orthopädischen Möglichkeiten unterwegs war. Ein Patellaspitzensyndrom sei gut behandelbar, machte man mir Mut, und ich brav einbeinige Kniebeugen – erst pur, dann wahlweise mit Theraband oder Rucksack.

Insgesamt habe ich dieses Jahr, wie auch schon letztes Jahr begonnen, immer mehr Alternativtrainings einzuschieben und bin mit meinen Gesamtkilometern weiter zurückgegangen. Ergebnis war, dass ich mich insgesamt sehr stabil fühlte, bei weitem nicht so müde und schwer, eigentlich eher beflügelt durch die zunehmende Spritzigkeit und Freude an der Abwechslung von Training im Studio, im Schwimmbad, auf Rollen, zu Hause auf der Matte und laufend im Gelände.

Mehrfach trafen Roland und ich uns auch mit Sandra und Stefan Sons, um unser kleines Vierer-, Läuferinnen- und Betreuerteam zu stärken, mich mit Sandra über die Luxusprobleme von Vierundzwanzigstundenläuferinnen auszutauschen und uns beim letzten gemeinsamen Vorbereitungslauf Träumereien über das Leben nach dem großen Lauf hinzugeben. Wer weiß, worüber unsere Männer sprachen, während wir auf den Trassen des WHEW auf Westerwälder Feldwegen stundenlang nebeneinander her trabten? Auch die sich diesen Läufen anschließenden kulinarischen und musikalischen Erlebnisse stärkten unseren Zusammenhalt.

 

Es wurde Mai, es wurde Juni, es wurde Sommer. Irgendwann läuft diese rückwärts zählende Uhr ab. Die ganze Zeit ist noch Zeit, und dann auf einmal – ist es Ernst!

Wir hatten schon vorher ein paar Tage Urlaub in Irland gemacht (wunderschön!) waren am Mittwochnachmittag in Belfast angekommen (immer noch soooo viel Zeit!), lernten das spartanische Elms Village kennen, Wohnheim der Belfaster Queen's University, das uns Athleten aller Nationen als Unterkunft diente. Man streicht übers Gelände, inspiziert die Mensa, die Wohnheimküche, trabt durch den botanischen Garten und schon mal drei Runden auf der Wettkampfstrecke im Victoriapark. Immer noch viel Zeit.

Und dann ist es plötzlich Freitagabend und ich muss die Klamotten für morgen rauslegen, entscheiden, was ich anziehe...... O Gott, habe ich überhaupt das Richtige gegessen? Das ist jetzt in mir drin und es gibt kein Zurück mehr! Letzte Nacht. Ein letztes Eincremen. Das letzte Frühstück.

Roland, steh mir bei!

Nein, wir fahren jetzt mal rüber in den Park, und dann ist ja immer noch viel Zeit. Es ist auch während des Laufs 24 Stunden lang Zeit für alles Mögliche (vor allem Gedanken). Auch die Betreuer strahlen Ruhe aus. „Das können wir alles aufbauen, wenn die Athleten laufen.“

Call Room. Toiletten checken. Alles ist gut.

Wir fangen jetzt gleich an zu laufen.

Ich werde versuchen, gleichmäßig unterwegs zu sein. Langsamer werde ich von alleine. In der Ruhe liegt die Kraft!

 

Es geht los, wir laufen, und ich habe wie immer Probleme, mein Wohlfühltempo über 6:00 min. zu finden. Also läuft ES erst mal eine Zeitlang schneller als 10er Runden (10er Runden hatten wir als angemessen erachtet, das ist Sechstertempo, schneller sollte es nicht sein). Dann ist ES halt schneller, ein bisschen halt, und ich versuche ja auch die ganze Zeit, ruhiger zu werden.

Als ausgesprochen angenehm empfinde ich es, dass mir niemand reinredet. Roland breitet zwar immer mal wieder dämpfend die Hände aus, - er darf das auch. Roland ist mein Premiumcoach. Er ist immer da, immer hellwach, immer orientiert, wenn ich mal die Orientierung verliere. Wie soll man die auch behalten, wenn man ständig im Kreis läuft? Da sind Fixpunkte schon wichtig.

Ich laufe also. Autopilot eingeschaltet.

Checken aller Systeme, immer wieder.

Anders als in Turin (WM 2015), wo ich einfach grenzenlos Spaß hatte und sehr entspannt war, laufe ich hochkonzentriert, immer wieder in mich horchend, immer wieder auch mich selbst, meine Schultern, meine Arme, korrigierend. Ich möchte nicht wieder ein Signal meines Körpers übergehen und zu spät reagieren. Es gibt da dieses klassische „Schmerz kommt – Schmerz geht“, das alle Läufer kennen. Das spielt sich während des Trainings ab, während der Wettkämpfe. „Hallo Schmerz, ah, da bin ich also gerade müde,.....“ Und später ist es dann wieder weg, es zwickt woanders, es kommt und geht. Weitgehend alles in der Norm, der Körper lebt und äußert sich. Die Verdauung lebt und äußert sich. (Wehmütig denke ich an die schönen und sauberen Toiletten im französischen Albi letztes Jahr – nunja. Hier Dixies. Keine Zwischenreinigung nachts. Hart. Aber nicht rennentscheidend.)

Irgendwann bemerke ich, dass sich am Schienbein ein Schmerz manifestiert, der nicht wieder gehen will. Es dauert ein paar Runden, bis ich mir eingestehe, dass es so ist, dass ich ein Problem habe, und mich damit beschäftigen muss. Hallo Problem! Ich brauche wohl Hilfe.

Ich steuere das Zelt an und frage nach Annett. „Das Schienbein fängt wieder an“, sage ich. Die Schuhe sind schon ganz lose geschnürt, loser geht’s nicht. Was tun? Sie sprüht ein kühlendes Spray auf, aber wo ist die Ursache? Wir entscheiden uns gemeinsam, die Compression Sleeves auszuziehen. Kann sein, dass die im Spann drücken. (Natürlich hatte ich sie ausprobiert, hatte sie ja auch problemlos in Turin getragen. Egal. Jetzt gibt es ein Problem und wir müssen was verändern.) Außerdem schneiden wir die Socken oben auf. Es sind ganz lose Socken. Irgendwas müssen wir ja tun.

Ich laufe weiter. Fühlt sich gut an. Mal schau‘n.

Ich laufe weiter.

Ich laufe und es wird hart. Ich erinnere mich, den Zwischenstand nach 12 Stunden erfragt zu haben. Waren es 112 km? 115? Ich weiß es nicht mehr. Es war ganz ordentlich. Ich erinnere mich immer wieder, wenn ich mich kraftlos fühle, dass ich schon “ganz ordentlich“ Kilometer auf dem Konto habe, und dass ich einfach im Laufen bleiben muss, auch wenn es schwer wird.

In diesen dunklen Stunden bin ich dann beim B-Ziel “Durchlaufen.“ Wäre schon gut, wenn es 200 km würden. Es war ja schon was auf dem Konto. Rechnen kann ich eh nicht gut, beim Laufen schon gar nicht.

Erstaunt stelle ich fest, dass es gar nicht ganz dunkel wird in der Belfaster Nacht. Ein Schimmer bleibt am Himmel. Und dann beginnt das Glimmen schon wieder. Ich beschäftige mich mit dem Gedanken, wo denn Westen und Osten sind, wenn es durchschimmert. Das muss der Norden sein. Und im östlichen Norden beginnt dann die Morgendämmerung.

Wetter? Temperaturen? Regenschauer? - Ja. Von allem etwas. Für mich nicht von Bedeutung.

Ich horche, ich takte, ich laufe. Der Viktoriapark ist ein Tunnel.

Nicht ganz jedoch. Die Strecke ist flach, die Runde 1.652 m lang. Es gibt eine Verpflegungszone der Nationen, danach die offizielle Verpflegung (recht spartanisch bestückt für einen 24er), dann die Zeitnahme, dann die Dixies. Hinter der Zeitnahme steht stundenlang und jede Runde frenetisch jubelnd Günter Marholds Löwenclan – jede Runde werden wir bejubelt und jede Runde gelingt mir ein Lächeln. Cool.

Dann kommen die Zelte der Iren. Ach ja, die Iren. Es sind ja zugleich auch irische Meisterschaften.

Die werden im Laufe der Nacht so richtig gut, die Partystimmung tritt immer mehr in den Vordergrund. Gegen Morgen tanzen sie zu lauter Musik, jeder Läufer wird angefeuert, und die letzten zwei Stunden brüllen sie jedes Mal, als wären wir im Sprint auf der letzten Runde. Unglaublich. Ich muss sogar lachen beim Laufen.

Auf der gegenüberliegenden Seite ist ein Zelt mit bunten Fahnen aufgebaut, und ein Paar spielt dort auf der ansonsten reizlosen Seite immer wechselnde Musik, sie tanzen und klatschen. Zwischendurch verschwinden sie immer wieder mal und ich frage mich, ob sie Akkus aufladen müssen. Aber sie kommen immer wieder und dann geht es weiter. Es ist eine weitere Stelle, um Blickkontakt aufzubauen und aus dem Sumpf zu kommen, mich aufzurichten, frischen Wind in mein Hirn zu lassen.

Das Rennen um mich herum ist schwer wahrzunehmen. Leider gibt es keine Moderation. Wenn ich Glück habe, wird gerade mal, wenn ich durchlaufe, das Ranking der ersten Frauen und Männer durchgegeben. Ich habe keine Ahnung, wie die Mannschaften liegen. Ich weiß nichts davon, dass diese schnelle Polin, die mich immer wieder überrundet, auf Weltrekordkurs ist. Generell ist es diesmal schwierig, an den Trikots von hinten zu erkennen, welcher Nation die Läufer angehören. Außerdem finde ich es schade, dass auf den Startnummern nicht die Vornamen, sondern die Familiennamen stehen.

Gegen Ende feuert man den einen oder anderen gerne an, ermuntert ihn, irgendwas. Das tut auch mir gut, generell wird es gegen Ende des Rennens mehr, dass ich Kontakt nach außen aufnehme, mir ein Lächeln, ein Klatschen, einen Zuruf abhole. Ich nehme und brauche jetzt alles, was ich kriegen kann – und da sind die Iren ganz groß! Natürlich auch unser eigenes Team. War ich ja eigentlich die ganze Zeit einfach für mich gelaufen, für mein gutes Rennen, für meinen kleinen Stolz auf mich, so wurde es dann gegen Ende unerwartet noch ein Laufen für die Mannschaft, da ich nach 22 Stunden als drittstärkste deutsche Frau hinter Antje und Julia meine Runden drehte. Es werde eng gegen die Schwedinnen, jeder Meter zähle, wird mir aus dem Mannschaftszelt zugerufen.„Na gut“, denke ich mir zwischen „lasst mich doch in Ruhe“ und „klar, schaffe ich es, noch mal in Fahrt zu kommen“, und gebe mein Bestes. Ich nehme es an als Motivation, und siehe da, es hilft. Auch die Information, dass ich in der W50 in Führung liege, richtet mich auf. Wenn ich durchhalte, kann das Gold in der AK geben! Ich fahre hoch, merke aber, dass es illusorisch und außerdem zu früh ist, wieder Sechsertempo zu laufen. Ich finde ein anderes, darunter. Rechnen geht eh nicht mehr. Aber so fühlt es sich gut an.

Die 23. Stunde macht keinen Spaß. Es sind ja noch fast zwei Stunden, und ich bin irgendwie schon müde.... Da hilft das Publikum, helfen die Betreuer, uns im Fluss zu halten.

Dann die letzte Stunde. Die ist schon wieder etwas besser.

Und das Geilste ist die letzte (Teil-)Runde, ich hebe mich richtig und gebe Gas, und das geht! Ich laufe 800 m in vier Minuten. Ich höre leise das Signal eine Minute vor Schluss, ich laufe weiter – wünsche mir noch, bis zu den Leuten mit dem Zelt und der Musik zu kommen – dann scheint es vorbei zu sein. Alle hören auf zu laufen und sehen  sich fragend an: War es das, hast du was gehört? Nach meiner Uhr muss auch Schluss sein, und ja, da war ja irgendwas Leises – ich könnte nicht mal mehr sagen, ob es ein Hupen oder ein Schuss war. Ich lege mein Holzplättchen auf den Boden und setze mich auf eine Bank. Wie passend, eine Bank!

Roland kommt mit Campingstuhl und Decke. Ich freue mich einfach, dass er da ist. Da ich noch knapp über die 800m-Marke gelaufen bin, ist das Vermesserteam ganz schnell da, wir beobachten das noch und gehen dann gemeinsam zu meinen Freunden aus der Nacht, - die mit dem Zelt und der Musik. Sie freuen sich, ich freue mich. Nun umarmen wir uns und ich bedanke mich ausschweifend.

Wir ziehen weiter zum deutschen Zelt, alle beglückwünschen sich, ich lege mich hin und mein Kreislauf macht erst mal Pause.

Transfer ins Elm's Village. Duschen. Ruhen. Aufstehen und zum Bus gehen. Victory Ceremony im Stadion. Wir deutschen Damen haben tatsächlich Bronze geholt, was für eine Freude! (Antje Krause 237,841km, Julia Fatton 236,183km – PB für beide, und Sigrid Hoffmann 217,250km. Zusammen 691,274km! Und ich habe die AK gewonnen und bekomme zu derMannschafts-Bronze- noch eine persönliche Goldmedaille. Wow! Ich bin Weltmeisterin. Abgefahren.